Gottes Liste.

Ein sonniger Tag im Februar. Ich spaziere durch die überfüllte Innenstadt, vorbei an all den Menschen, die ihre Gesichter den wenigen Sonnenstrahlen entgegen strecken. Die Stadt lebt wieder, die Leute gehen raus, bummeln durch die Gassen und reden über Dies und Das, mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen. Ein Ende ist in Sicht. Das Ende des langen, grauen Winters, der den Menschen Jahr für Jahr die Kraft aus den Knochen zieht. Das Leben beginnt und der anstehende Frühling weckt Hoffnung auf ein "besseres neue Jahr“, wie man es jeden 1. Januar überall hört.

 

Dabei war mein Jahr gar nicht schlecht. Es war gut. Es war chaotisch, aber beständig. Verrückt, aber stabil. In erster Linie, war es sicher und ich glaube, dass das der entscheidende Faktor ist. Mir geht es gut und ich kann mich unverbittert über die Freude der Menschen freuen. In meiner Jackentasche vibriert es, ich krame das Handy heraus und höre die Sprachnachricht an. Und … und … nochmal ... und nochmal ... und nochmal. Habe ich was falsch verstanden? Ich höre sie nochmal und nochmal und sehe wie die Menschen im Augenwinkel langsam verschwimmen. Ich sehe nicht mehr klar, die harten Konturen in meiner Umgebung wirken weichgezeichnet und undeutlich. Ich stehe mitten auf dem Bürgersteig und zwinge diese glücklichen Leute, mir aus dem Weg zu gehen. 

Meine Gedanken werden zu Brei. Ein ekelhafter, zähflüssiger Brei, der in einem Strudel in irgendeine dunkle Ecke meines Gehirns gesogen wird. In die Ecke, in der alle Nachrichten dieser Art verschwinden. Da, wo die anderen Traumata schlummern und nur darauf warten, wieder angefüttert zu werden. Mir wird schwindelig. Ich taumle auf der Stelle, höre die Stimme dumpf im Hintergrund, stehe immer noch blöd in der Gegend rum. Nichts ist mehr übrig von den Menschen, von der Innenstadt und den Sonnenstrahlen. Stattdessen spüre ich völlige Taubheit. Immer wenn mich etwas an schmerzhafte Erfahrungen erinnert, verlässt meine Seele meinen Körper für kurze Zeit und schaut zu, wie er in der Situation stecken bleibt. Eine hellgraue, verschwommene Gestalt löst sich aus der schweren Hülle und schwebt vor der sichtbaren Figur her. Ich kann förmlich dabei zusehen, wie mein Bewusstsein sich abspaltet und verabschiedet. 

Heiße Tränen laufen mir über die Wange, runter zu meinem Kinn, sammeln sich kurz und verrinnen dann in den Furchen des kalten Asphalts. Sie klatschen auf den Boden - mit einer Wucht und Gewalt, dass sie die eben noch so stabile Erde absenken. Die Straße sinkt, sie sinkt und reißt mir die Füße weg.

 

Nicht schon wieder. Bitte nicht wieder. Bitte, bitte, bitte nicht wieder! Es ist wieder da, es ist alles wieder da. Diese Nachricht, ein Déjà-vu aus einer anderen Zeit. Gerade erst verarbeitet, kommt es nun unter einem anderen Namen wieder zurück. Es ist wieder plötzlich, wieder ungerecht, wieder unwirklich. Die Minuten der Taubheit und Leere sind nur ein Vorwarnzeichen, für alles, was ab jetzt auf mich zukommen wird. Die leere Hülle saugt den Geist wieder ein und bringt ihn zurück an seinen Platz. Diese Vereinigung ballert alle unterdrückten Gefühle gleichzeitig raus. Ich bin traurig, ich bin überfordert - und ich bin verdammt nochmal wütend. Jeder einzelne Spaziergänger hätte es verdient, dass ich ihm das Grinsen aus dem Gesicht schlage. Ohne schlechtes Gewissen. Ich meine, was fällt denen überhaupt ein, mir genau in diesem Moment ihre Fröhlichkeit unter die Nase zu reiben? Ich gönne euch die Sonne nicht. Wenn ich könnte, würde ich sie vom Himmel schießen, damit ihr euch alle mit traurigen Mienen in euren Wohnungen einschließt.

 

Wie kann es sein, dass mir das schon wieder passiert? Dass ich diese Gefühle nochmal durchleben muss? Wie hoch ist denn bitte die Wahrscheinlichkeit, dass eine Familie wirklich alles, was es an Scheiße gibt, durchmachen muss? Ich soll beten, wurde mir damals geraten. Gott wird mir Hoffnung geben. Ach dein Ernst? Jetzt mal ehrlich! 

Wenn es einen Gott gibt, ja, wo ist er denn? Wo bist du, du barmherziges, liebendes Arschloch? WO zur Hölle treibst du dich rum? Spielst du Poker und hast mein Glück mal wieder verzockt? Stehe ich auf irgendeiner Liste und du gibst mir einfach alles, was ein Leben an Schmerz zu bieten hat? Spar dir deine Erklärungen, wirklich. Lass mich in Ruhe mit deinem Blabla. Hätte ich dich sonntags im Kollektiv preisen sollen und dann wäre alles Palletti, oder was? 

Wahrscheinlich zielst du auf mich, weil du mich auf die Probe stellen willst. Du sitzt da rum und schaust blöd und denkst dir: „Ja, wann fällt sie denn endlich um?“ Mach du dir deinen Spaß daraus, aber du weißt, dass ich auch das überleben werde. Ich werde kämpfen und dir mit eiskaltem Todesblick in die Augen schauen, während du mir einen Bullshit nach dem anderen vor die Füße wirfst. Das Schicksal kann Schläge austeilen, wie es will, aber ich bleibe stehen und weine und schreie und halte Stand, bis es von selbst aufgibt. So, wie ich es bisher immer getan habe und drei Mal darfst du raten: Ich bin jedes Mal klüger und stärker aus der Geschichte wieder rausgekommen. 

Du allmächtiger Heuchler kannst meinen Körper verletzen und meine Seele brechen, aber mich niemals zur Kapitulation zwingen. 

Du lächerlicher, barmherziger, liebender Gott: Nimm mich endlich von deiner verdammten Liste. Habe ich dir nicht schon genug bewiesen?