Alles schon erlebt

ich krame das Handy heraus und höre die Sprachnachricht an. Habe ich was falsch verstanden? Ich höre sie nochmal und nochmal und sehe wie die Menschen im Augenwinkel langsam verschwimmen.
Brief an mich selbst.
Sei nicht traurig Liebes! Du wirst so unglaublich oft herzlich lachen und perfekte Momente genießen. Kleine Augenblicke, die das Leben lebenswert machen. Bleib wie du bist mein Schatz! Denn du bist wundervoll auf deine eigene Art und irgendwann, ja, es wird dauern, aber irgendwann wirst du es fühlen und ausstrahlen. Ich denke oft an dich. Halte einfach durch, es wird sich lohnen.
Elf verpasste Anrufe, hundert Nachrichten, Kriegserklärungen, Morddrohungen, schmalzige Liebesbekundungen, Fotos mit flehenden Blicken, herzzerreißende Entschuldigungen, träumerische Versprechen, verzweifeltes Betteln, Suiziddrohungen, Handy aus, aufs Sofa fallen, einschlafen, nie mehr aufwachen wollen – Ich kann nicht mehr.
Ich hätte es selbst nie für möglich gehalten, aber ich fühle mich befreit, allein und vollkommen. Wie oft habe ich gebetet, geweint und gefleht, dass ich Ruhe und Ausgeglichenheit in mir tragen möchte? Wie oft habe ich diese abstrakte Vorstellung vom allein zurechtkommen, in meinem Kopf angehimmelt? Dabei hatte ich doch keine Ahnung wie das konkret aussehen soll. Eine billige Nachmache von dem was ich bei Menschen, die ihr Leben „im Griff haben“, gesehen habe. Aber es ist ganz anders gekommen.
Erst im zweiten Augenblick erkannte ich dich, hinter der erbärmlichen Gestalt, die vor mir stand. Auf einmal sah ich nicht mehr den betrunkenen, gewalttätigen Tyrann vor mir, als den du dich mir, vor noch nicht einmal einer Woche, gezeigt hast. Nein, ich sah ein mitleiderregendes Würstchen vor mir stehen, das mich vom ersten Blick an, hilfsbedürftig um Rettung anflehte.
Warum ich lebe? Ich steh auf Mutproben. Lieber riskieren jung zu sterben, als nie richtig gelebt zu haben. Zarathustra sprach: "War das das Leben? Wohlan! Noch einmal!"
Ruhrpott.
Ich fühle mich als wäre ich angekommen, ein Teil einer sich bewegenden Gesellschaft, ein Teil von der Welt.
Nicht ich, sondern er ist schuld. Nicht ich, sondern er sollte an der Erinnerung ersticken. Nicht ich, sondern er sollte für den Rest seines Lebens darunter leiden.