Trance.

Rund dreißig leicht bekleidete, frierende Menschen in eine ungeduldige Schlange formiert. Sie alle warten darauf, erst ihre restlichen Klamotten und dann die Kontrolle abzugeben. An der Tür zwei Männer, die aussehen wie mindestens fünf Jahre Knast. Gorillas in schwarzen Jacken, mit einer Zigarette in der Hand. Zwanzig Euro und du darfst durch die Tür. Die streng bewachte Tür, die keine Menschen in weißen Strickpullis durchlässt, aber zwielichtige Typen in Netzhemden mit Bauchtaschen voller bunter Pillen. Die Ampel leuchtet grün, Ausweis „Ja“, Handtasche „Ja, sind nur Fishermans Friends“, die besagten zwanzig Euro später, verlasse ich die Realität und schiebe mich durch den schweren Vorhang. 

 

Das ist der Moment, in dem ich meinen Namen und meine Persönlichkeit ändere. Wer will ich heute sein? Wie eine Jacke ziehe ich meine Probleme und Alltagssorgen aus und werfe sie vor dem Club auf den Boden. Ich hol sie später ab, wenn ich nach Hause gehe. 

 

Zeit für die 2.0 Version von mir selbst. Der Blick stur geradeaus, Arroganz mein Accessoire, ich werfe meine Haare nach hinten, reiße kleine Löcher in die Strumpfhose und folge den grellen Neonlichtern die Treppe hoch. Mädchen mit abgeklebten Brustwarzen kommen mir entgegen, richten ihren Pferdeschwanz und drehen sich lachend nach gaffenden Männern um. Menschen mit großen Augen, die Blicke sagen: „Da geht es lang“.

Ich folge den Schatten aus Lichtern und Stimmen und da stehe ich auch schon mittendrin in dieser Welt, wie sie sich keiner ausmalen kann. Zu viele Menschen auf zu wenigen Quadratmetern, die Wände vibrieren, der Dunst tropft von der Decke und zwei Ventilatoren, die in der Ecke stehen und ihr Bestes geben, damit niemand kollabiert: Willkommen an der Grenze zum Wunderland, zum Abgrund, zum Paradies, in meinem Zuhause.

Viele von ihnen sind schon seit gestern da und werden, wenn es der Körper zulässt, noch bis Sonntag bleiben. Seltsame Leute, die in der Dunkelheit Sonnenbrillen tragen und ihre Gesichter zu Fratzen verziehen. Unschuldige Lächeln, Gesichter wie Engel mit dunkelgrauen Westen. Neben mir reißt sich ein glatzköpfiger Mann das T-Shirt vom Leib, brüllt mir ins Gesicht und verdreht alle Gliedmaßen. Er tanzt, tanzt so, dass er Raum und Zeit verliert, das Gesicht dabei zu einem so breiten Grinsen verzerrt, dass es Angst macht. Ich fühle mich angekommen. 

 

Es dauert nicht lang, ein paar Minuten, vielleicht Sekunden, bis auch ich im Vibe bin und in der Musik aufgehe. Alle tanzen in Richtung der DJ. Sie steht vor uns auf einem Podest, eine Göttin, die sich anbeten lässt. Energisch nickt sie mit dem Kopf, dreht an Knöpfen und lässt sich für jeden Drop feiern und zelebrieren. Alle in diesem Raum tanzen wortörtlich nach ihrer Pfeife. Wer sich nicht hingibt, kann nach Hause gehen. Sie gibt den Ton an, bestimmt die Situation und trägt die Verantwortung, ihrem Publikum die Nacht ihres Lebens zu schenken. Sie schnippt mit dem Finger und hypnotisiert mich. Ich verfalle ihrer Leidenschaft, halte den Blick stur gegen die blauen Lichter, roten Lichter, wieder blauen Lichter und dann wieder die roten, so lange, bis ich mich in Trance tanze. Ich habe es mit der Zeit geübt und perfektioniert, mich in diesen transzendentalen Zustand zu pushen. Ich stampfe mit den Beinen, links, rechts, links, rechts mit allen zusammen, wir stampfen, wir ballen die Hände zu Fäusten und marschieren. Der Schweiß läuft stromlinienförmig an meinem Körper hinunter. Ich wische mir über die Brust, fühle die Erregung und würde mich der unscheinbaren, blonden Frau am DJ-Pult hier jetzt, an dieser Stelle sofort hingeben. Völlig hingeben, fallen lassen, meinen Willen aufgeben. Serotonin, das in meinem Gehirn explodiert, nur eine Berührung und ich stehe vor dem Orgasmus, was macht sie nur mit mir?

 

Ich spüre weder Arme noch Beine, fühle die Energie im Raum und nehme doch niemanden so richtig wahr. Hundert-zwanzig Füße machen was sie wollen, wie im Militär, im kollektiven Gleichschritt, alle gleich, hier sind alle gleich, links, rechts, links, rechts. Wir folgen den Lichtern und dem Bass, folgen der DJ, unserer Anführerin, und warten auf ihren Befehl, um völlig die Kontrolle zu verlieren. Der Bass ebnet den Weg in diese Welt, ein bedrohlicher Tunnel mit der Aufschrift „free your mind“. Wir fallen, fallen, fallen ins Nichts, werden gefüttert von der Musik zu einem kollektiven Ego-Push, wir wachsen, wachsen, wachsen, bis jeder Gedanke an Morgen bricht. Zumindest heute Nacht liegt keine Zukunft vor uns. Vor uns liegen Ruinen aus Plänen, Hoffnungen und unerfüllten Versprechungen. Menschliche Wesen, die sich bewegen wie ferngesteuerte Roboter, die ihrem Körper und Geist alles abverlangen, um auch nur das Wort „Alltag“ zu vergessen.

 

Ich will nicht wissen, wie viele Menschen dieser Raum auf dem Gewissen hat, weil sie hier ihre erste Droge konsumiert haben, weil sie hier dem Gefühl des „Nur für heute“ nachgegeben haben, weil sie hier süchtig wurden nach diesem Lebensgefühl. Ich kann sie verstehen, ich bin eine von ihnen. Gib mir nur eine Stunde, eine Nacht, vielleicht zwei Tage, oder machen wir drei daraus, solange es die After Hour gibt, habe ich immer ein Zuhause.

 

Und die Jacke? Die kann draußen bleiben.