Bulimie.

Art by: Lorenzo Minutella
Art by: Lorenzo Minutella

Mein Leben wird von Zahlen bestimmt. Es sind eben jene Zahlen, die mich ausmachen. Sie entscheiden darüber, ob ich gut bin oder nicht. Ob ich schön und beliebt bin oder nicht. Es sind meine Zahlen.

 

Ich halte mich an eine feste Routine, denn Disziplin ist alles. Um 5:30 Uhr stehe ich auf, frühstücke ein Müsli und gehe 45min joggen. Danach fahre ich mit dem Fahrrad zur Arbeit und von 17-18 Uhr trainiere ich im Fitnessstudio. Davon 30min Ausdauer und weitere 30min Bauch-Beine-Po. Zu Hause angekommen, esse ich einen fettarmen Joghurt und schneide mir eine Banane klein. Ich erlaube mir maximal 800kcl täglich.

 

Um die Kontrolle zu behalten, dokumentiere ich meine Mahlzeiten.

 

-        433kcl Müsli, 115kcl Banane, 94kcl Joghurt

-        Gestern: 797kcl. Heute: 642kcl

-        Täglich verbrannte Kalorien bei Ruhe: 1372kcl

-        Größe: 168cm; Gewicht: 53,2kg

-        70cm Brustumfang; 50cm Bauchumfang

-        Aktueller BMI: 18,8; leichtes Untergewicht an der Grenze zum Normalgewicht

 

Wenn ich allein zu Hause bin, betrachte ich mich oft im Spiegel oder überprüfe mit einem Maßband den Stand der Dinge. Zurzeit bin ich zufrieden mit mir. Also weniger mit meinem Körper, denn der ist aktuell eine reine Baustelle. Dafür aber mit meinem Durchhaltevermögen und der Disziplin, diese Diät weiter durchzuziehen. Trotzdem ist da noch Luft nach oben. 

 

Während ich mich ansehe, fallen mir immer mehr Problemzonen auf. Meine Oberschenkel reiben beim Gehen aneinander und der Hüftspeck quillt seitlich über die Hose. Mein Hintern ist zu flach, dafür sind meine Beine zu kurz und zu dick und vom Rest will ich gar nicht erst anfangen. Meine Brüste hängen und mein Bauch sieht vom Abnehmen so ausgeleiert aus. 

In solchen Momenten frage ich mich ernsthaft, wie ich es so weit kommen lassen konnte. Wie konnte ich mich nur so gehen lassen und die Kontrolle über mein Gewicht verlieren? Es wundert mich mittlerweile nicht mehr warum ich immer noch single bin. Andere Frauen sind viel dünner aber kurvig, allgemein einfach schöner, im Gegensatz zu diesem unproportionalen Kloß, den ich darstelle. Es ist beschämend.

Gerade ist mir echt zum Heulen zumute. Am liebsten würde ich mich im Bett verkriechen, aber der Hunger treibt mich zurück in die Küche. Mein Magen tut weh, eine ekelhafte Kombination aus Hunger, Krämpfen und Übelkeit. Gerade als ich mir einen Joghurt aus dem Kühlschrank nehmen wollte, fällt mein Blick auf die Pizza im Tiefkühlfach. Ich starre die Verpackung an und versuche mir einzureden, dass das Gift ist und ich einfach den Kühlschrank wieder zu machen sollte. Beim Gedanken an die warme, knusprige Pizza mit weichem Mozzarella und Kirschtomaten, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Wie ferngesteuert hole ich sie aus der Tiefkühle und stecke sie den Ofen. Auf der Rückseite der Verpackung steht die Kalorienzahl, aber ich traue mich nicht nach zu sehen. Also werfe ich sie ohne Umschweife in den Müll.

Als sie dann fertig gebacken ist, schneide ich sie in insgesamt 10 kleine Stücke und nehme mir vor nur drei davon zu essen. Beim Essen stelle ich mir einen Timer auf 15min, denn das ist das Zeitfenster bis der Magen anfängt es zu verarbeiten. Ich bemühe mich jeden Bissen langsam und besonders oft zu kauen, damit das Sättigungsgefühl schneller eintritt, aber es fällt mir zunehmend schwerer. Das ist aber auch die beste Pizza, die ich je gegessen habe! Der Hunger zwingt mich immer schneller und mehr zu essen. Mit ständigem Blick auf die Uhr, kaue ich mittlerweile nicht einmal mehr. Maßlos schlinge ich einfach ein Stück nach dem anderen rein und spüle es mit lauwarmen Leitungswasser runter.

Wie ein Tier habe ich die ganze Pizza in 8min gegessen und laufe jetzt zum Süßigkeitenschrank. Vollkommen besessen schiebe ich mir Schokolade und Gummibärchen gleichzeitig in den Mund, bis die Zeit um ist. Das Klingeln des Weckers hat mich in die Realität zurückgeholt und ich renne förmlich ins Badezimmer. Dort ist bereits alles vorbereitet.

Auf dem Boden vor der Toilette liegt ein gefaltetes Handtuch, daneben ein Glas warmes Wasser und eine Zahnbürste. Auf den Knien, mit dem Kopf über die Schüssel gebeugt, schiebe ich mir die Zahnbürste vier bis fünf Mal in den Rachen bis ich etwas hochwürge. Routinearbeit. Erst kommt die Schokolade, dann nach und nach die Pizza. Wenn beim Würgen nichts mehr kommt, trinke ich das Wasser auf Ex um den letzten Rest raus zu spülen.

Es wird mit jedem Mal anstrengender. Mir wird schwarz vor Augen und ich muss den Kopf kurz auf der Klobrille ablegen. Die Krämpfe im Bauch werden immer schlimmer und mein Rachen ist bereits aufgeätzt von der Magensäure. Nach fünf Minuten geht’s aber wieder und ich stoße mir die Zahnbürste noch ein paar Mal immer kräftiger in den Hals. Endspurt.

Mein Magen wehrt sich, die Augen tränen und ich zittere am ganzen Körper. Langsam setzt der Würgereflex aus, aber da nur noch Magensäure hochkommt, habe ich die Mission erfüllt. Beim Versuch aufzustehen, muss ich mich am Toilettensitz und der Wand festhalten, weil mir so schwindelig ist, dass ich die Sorge habe gleich umzukippen. Gewohnheitssache.

Mit bebenden Beinen schwanke ich in mein Zimmer und lasse mich kraftlos aufs Bett fallen. Erschöpft und frierend decke ich mich zu, schließe die Augen und schlafe mit einem stolzen Lächeln auf den Lippen ein.

Nur noch ein paar Wochen, dann habe ich es geschafft. Bald hat sich die Mühe gelohnt und ich habe mein Ziel erreicht! Dann habe ich endlich die Kontrolle über meinen Körper.

 

Dann bin ich glücklich. Dann finde ich meinen Frieden.