Zimmer 324. Toxische Beziehung.

Art by: https://www.instagram.com/painterman1962/
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Es sollte der letzte Anruf von dir sein, den ich angenommen habe. Wir haben uns seit Tagen nicht mehr gesehen. Zuletzt, als du nachts vor unserer Wohnung in Handschellen abgeführt wurdest. Und jetzt rufst du mich an. Acht vergangene Anrufe hat es gebraucht, bis ich mich dazu entschloss dir eine Chance zu geben und ranzugehen.

 

Du warst betrunken, du warst verzweifelt und sagtest, dass du unbedingt meine Hilfe bräuchtest. Ich sollte in dein Hotelzimmer kommen und dich in ein Krankenhaus fahren.

Als wir das Telefonat beendeten, war ich dann verzweifelt. Ich wusste, dass es falsch war dir zu helfen. Ich wusste, dass es falsch war ohne Polizei in das Hotel zu gehen. Ich wusste, dass ich gegen die einstweilige Verfügung, die ich gegen dich erhoben habe, verstoßen würde, wenn ich mich dir nähere. Und dennoch. Meine naive Gut-Mensch-Seite, vielleicht ein Helfer Syndrom, vielleicht auch der letzte Funke Gefühl, den ich noch für dich verspürte, zwang mich, nach dir zu sehen. Ich packte ein paar deiner Sachen in eine Tasche und steckte das Messer ein, mit dem du mich noch vor wenigen Tagen bedroht hast.

 

Dann machte ich mich auf den Weg.

 

Nervös fuhr ich mit dem Aufzug in den dritten Stock. Dein Zimmer lag am anderen Ende des Gangs und ich bin nie in meinem Leben einen längeren Weg gelaufen. Mein Herzklopfen wurde heftiger, zwei Mal blieb ich stehen und wollte mit unterdrückten Tränen zurücklaufen, solange ich noch die Möglichkeit dazu hatte.

 

Doch ich ging weiter.

 

Ich klopfte an deine Zimmertür und hielt das Messer bereit. In den 20 Sekunden, die du brauchtest, um die Tür aufzumachen, sah ich mein Leben an mir vorbeiziehen. Würde ich das Messer wirklich benutzen? Würde ich es dir im Ernstfall in den Bauch rammen? Wäre ich wirklich dazu bereit, dich zu töten, bevor du es tun kannst? Ich wusste es nicht und allein der Gedanke daran, ließ mich begreifen, in welche Situation ich mich da gebracht habe.

 

Und dann öffnetest du die Tür. Wie ein Schlag ins Gesicht traf mich ein widerlicher Gestank aus dem offenen Spalt. Am liebsten hätte ich mich an Ort und Stelle übergeben. Erst im zweiten Augenblick erkannte ich dich hinter der erbärmlichen Gestalt, die vor mir stand. Du sahst verändert aus, schwach, kaputt und armselig. Auf einmal sah ich nicht mehr den betrunkenen gewalttätigen Tyrann vor mir, den du mir, vor noch nicht einmal einer Woche gezeigt hast. Nein, ich sah ein mitleiderregendes Würstchen vor mir stehen, das mich vom ersten Blick an hilfsbedürftig um Rettung anflehte.

 

Also ging ich mit ihm rein.

 

In Schockstarre stand ich da und wusste nicht, wohin ich sehen sollte.

Die Jalousien waren zugezogen, eine Tischlampe spendete ein kleines Licht in einem sonst finsteren Raum. Doch ich sah mehr als mir lieb war. Die Wände waren verschmiert, Spritzer geronnenen Blutes ragten bis an die Decke. Das Bett war auseinandergerissen, die Matratze übersät von kraterartigen Brandlöchern. Der Rest war getränkt in Schnaps, Blut und Urin. Auf dem Nachttisch lagen Überreste von zerdrücktem Crystal Meth, einzelne Steine verteilten sich auf dem azurblauen Teppichboden. Wie verdreckte, dunkelrote Diamanten schimmerten sie im trüben Licht der Nachttischlampe. Eine Spritze, Tupfer und ein Gürtel wurden daneben in die Ecke geworfen. Als ich einigermaßen zu mir gekommen war, überrollte mich der bestialische Gestank. Ich wollte durch den Mund atmen, entschied mich aber sofort wieder um, weil ich Angst hatte, den Geruch zu schmecken. Irgendetwas ist in diesen vier Wänden gestorben und verwest. Höchstwahrscheinlich seine Würde. Die beißende Mischung aus Alkohol, Eisen und Ammoniak schnürte mir die Lunge ab, verkrampfte meinen Magen. Ich fragte mich, wie viele Tage er wohl in diesem Zimmer gelegen war. Eine ganze Weile stand ich wortlos da und starrte in die Leere. Er berührte mich am Arm und zeigte mit dem Finger auf den Fußboden. Meine hellgrauen Sneaker standen in einer Blutlache. Das Blut das einst durch seine Adern floss,...an meinen Schuhen. 

 

Erschrocken wich ich zurück und stolperte ins Bad. Die Toilette, die weißen Fliesen an der Wand und dem Boden waren überzogen von Erbrochenem. Im Waschbecken verteilten sich die Haare, die er sich abrasiert hat. Ich wollte mich irgendwo fest halten, durchatmen, klar kommen. Er stand in der Tür streckte beide Arme aus, zittrig in den Knien und  wich meinen Blicken aus. Demonstrativ drehte ich mich von ihm weg, kehrte ihm den Rücken und befahl er solle endlich seine Sachen packen. Scheinbar hatte er die Duschwand rausgerissen und improvisiert an die Duschkabine gelehnt. Als würde es niemandem auffallen. In der Mitte lagen zwei Messer und herausgeschnittene Hautfetzen in einer Pfütze von Erbrochenem. 

 

Ich musste sofort raus.

 

Am ganzen Körper zitternd, wartete ich im Gang, bis er seine Sachen zusammengepackt hatte und wir gingen gemeinsam den Flur entlang. Diesmal war es ein sehr kurzer Weg, den ich am liebsten gerannt wäre. Sichtlich geschwächt, hinkte er schwer keuchend hinter mir her. Wir ließen dieses Hotelzimmer in dem Zustand zurück. Wir sprachen mit niemandem ein Wort, grüßten nicht, gingen stur geradeaus. Ich war nicht bereit mich darum zu kümmern, was aus diesem Zimmer werden würde.

 

Im Auto gab ich die Adresse ein und wir fuhren die 20 Minuten bis zur Psychiatrie schweigend. Dort angekommen, sagte ich nur knapp, dass er jetzt aussteigen soll und dass ich ihn nicht begleiten würde. Zögernd machte er die Autotür auf und rang mit Worten. Bevor er letztendlich ausstieg, stotterte er irgendwas vor sich hin. Ohne mich anzusehen, sagte er, dass er ohne mich nicht mehr leben wollte. Er hätte keinen Lebenswillen, denn unsere Beziehung wäre alles gewesen, was er hatte. Mit Tränen in den Augen schluchzte er, er würde alles für mich tun.

 

Mit starrem Blick fixierte ich das parkende Auto vor mir. Ich wollte die tiefen Schnitte an seinem Handgelenk nicht sehen. Bevor er die Tür schloss, antwortete ich eiskalt: „Ja alles, außer mich gut behandeln.“