Vom allein sein.

„Bitte lass mich nicht allein, ich flehe dich an, bleib bei mir heute Nacht.“

Du sagst du müssest gehen, du hättest morgen früh Termine. Aber ich kann dich jederzeit anrufen, wenn es schlimm werden sollte. Ich traue mich nicht, dir zu sagen, dass ich beim bloßen Gedanken daran, gleich allein den Abend verbringen zu müssen, Panik kriege. Also verabschiede ich mich von dir und lasse dich gehen. Wir wissen beide, dass ich nicht anrufen werde, weil ich dir nicht zur Last fallen möchte. Sobald die Tür ins Schloss fällt, lehne ich mich an die Wand und lasse meinen Blick durch die menschenleere dunkle Wohnung schweifen.

 

Ich setze mich an den Tisch mache Musik an und stelle sie auf die maximale Lautstärke. Der verstärkte Bass, nur ein dröhnendes Echo, das in meinem Kopf nachhallt. Die Klänge scheinen an mir vorbeizuziehe. Ich fühle sie nicht, kann nichts dazu empfinden. Ich höre nicht zu.

In beständiger Isolation in einer leeren Wohnung, in einer leeren Hülle, schreien mich tiefsitzende Ängste an. Wie widerliche gigantische Nacktschnecken kommt die Einsamkeit aus ihren Ecken gekrochen.

Ich weiß grad nichts mit mir anzufangen, meine Bude ist sauber, die Pflanzen gegossen und der Fernseher fuckt mich nur noch mehr ab. Der einzige Mensch, den ich um die Uhrzeit noch gewissensfrei belästigen könnte, ist mein Ticker. Ich bin allein.

 

Meine inhaltlosen Gedanken überschlagen sich, leer und doch überladen, kommen sie so oder so zu keinem Ergebnis. Ich fühle mich zu zerbrochen, als dass Ablenkung mir Abhilfe verschaffen könnte.

Gin, gemischt mit irgendeinem Gut und günstig Maracujasaft und ein Joint werden mir Gesellschaft leisten. Mit halbherzigem Optimismus, mir die nächsten Stunden angenehm gestalten zu können, stoße ich auf mich selbst an. Nur so lange, bis Schlafenszeit ist.

Mir graut es bereits vor dem nächsten Tag, weil ich weiß, dass ich auch da nichts vorhabe. Weil ich weiß, dass ich auch da allein sein werde. Ein Sonntag mit traumhaftem Wetter, nichts wert, solange ich ihn nicht mit jemandem teilen kann. Es wird höchstwahrscheinlich auf dasselbe Spiel hinauslaufen. Das Spiel, der Wirbelsturm, nenn es wie du magst, wird sich nicht legen, lediglich um eine gewisse Zeit verschieben. Scheiße, ich bin allein.

 

Die Drogen wirken, sie trocknen jede einzelne unterdrückte Träne und der Teufelskreis meiner Gedanken wird unterbrochen. Er verschwindet nicht. Er wartet auf den nächsten schwachen Moment. 100 Teufel gegen Eine, der Kampf ist nicht fair, aber das erwartet auch niemand. Mit jedem Schluck und jedem Zug gewinne ich mehr und immer mehr Abstand. Die Wände rücken zurück auf ihren Platz, die Decke hebt sich. Mein Käfig wächst auf die gewohnte Größe zurück. Alles in mir verstummt, ich nehme die Musik wieder wahr, singe den Refrain mit.

Doch es reicht nicht. Da ist noch immer etwas in mir, das Unbehagen auslöst. Ein, zwei hartnäckige Selbstvorwürfe blockieren meine Gedanken. Zwei, drei Szenen in meinem Kopf verursachen Schuldgefühle. Drei, vier Erinnerungen fressen mich auf und machen mir Angst. So langsam erkenne ich den Ernst der Lage. Noch bevor ich mir eine Lösung für meine Probleme überlegen kann, kurz bevor ich mich ernsthaft mit mir selbst und meinem Leben auseinandersetze, entscheide ich mich neu, leite die nächsten Schritte ein. Ich schlucke eine Tavor, um mich vor mir selbst zu schützen. Eine Zweite, um ganz sicher zu gehen. Die Dritte, um schlafen zu können. Und die Vierte, um den morgigen Tag erst spät beginnen zu müssen. Ein paar verschenkte Stunden, in denen ich mich sonst wieder diesem Frust aussetzen würde.

Man sitzt, man nippt, man singt, man wartet, man spielt Candy crush. Dann endlich: mein Kopf wird ganz leicht, er droht davonzufliegen. Alles leer gefegt, jedes Gefühl gewaltvoll abgetötet, zerstückelt und verscharrt.

 

Ob ich damit jetzt glücklich bin? Hahahaha Nein. Ich bin leer, bewusstlos und doch zufrieden.

 

All meine Aufmerksamkeit liegt nun darin, meinen immer schwerer werdenden Schädel aufrecht zu halten. Das Level werde ich wohl nicht mehr schaffen. Zu spät, selbst schuld, ich hätte gleich ins Bett gehen sollen. Tonnenschwer fällt mein Kopf vornüber auf den Tisch. Mit letzter Kraft hebe ich mein Glas, verschütte die Hälfte, kann nicht mehr richtig sehen, verschlucke mich und huste. Cut!

Die Musik dröhnt weiter und ergänzt diesen wenig graziösen Abgang mit melancholischen Klängen. Feierabend für die Teufel. Endlich kann ich allein sein.


10 Monate und eine Woche später, gehe ich allein in den Wald. Mein Handy habe ich nicht mitgenommen, aus Angst, dass mich jemand kontaktieren will und meine wertvolle Zeit für mich stören könnte.

Gleich einer Symphonie lässt der Wind alle Blätter rascheln, die Vögel singen dazu ihr Lied. Ich kann alles bewusst wahrnehmen. Das Knacken der Äste unter meinen Füßen weist mir den Weg auf diesem kleinen Trampelpfad. Ich setze mich auf einen großen Felsen am Rand eines kleinen Baches.

Es ist mein neuer Lieblingsplatz, an den ich vor Gesellschaft, Trubel und unnötigen Gesprächen flüchte. In der Sonne angekommen, atme ich tief durch. Endlich habe ich Ruhe und kann schreiben. 

 

Die sanften Windstöße lassen besorgniserregende Gedanken aus meinem Kopf gleiten. Mit jedem Atemzug nehme ich den Frieden um mich herum in mir auf und formuliere ihn auf ein paar zerknitterte Blockblätter.

Das Plätschern des Baches, ganz leise, begleitet die schwungvollen Bewegungen meiner Hand. Hier an meinem eigenen Platz, den sonst keiner kennt, kann ich meinen Gedanken und Gefühlen Ausdruck verleihen. Ich befriedige meine Sehnsucht nach Ausgeglichenheit und Erholung, indem ich mich mit mir selbst beschäftige und die nicht mehr gefürchtete Stille aufsuche. Es ist verrückt.

 

Ich hätte es selbst nie für möglich gehalten, aber ich fühle mich befreit, allein und vollkommen.

 

Mitten in der Natur, irgendwo am südlichsten Arsch Deutschlands in Niederbayern, ist mir bewusst geworden, dass ich mir einen Traum erfüllt habe. Wie oft habe ich gebetet, geweint und gefleht, dass ich Ruhe und Ausgeglichenheit in mir tragen möchte? Wie oft habe ich diese abstrakte Vorstellung vom allein zurechtkommen, angehimmelt? Dabei hatte ich doch keine Ahnung, wie das konkret aussehen soll. Eine billige Nachmache von dem, was ich bei Menschen, die ihr Leben „im Griff haben“, gesehen habe. Aber es ist ganz anders gekommen.

Am heutigen Tag ist es mir lediglich bewusst geworden. Ich habe gespürt, dass ich mein Ziel erreicht habe. Dafür musste ich viele kleine und dennoch lebenswichtige Entscheidungen treffen. Die Abschottung von allen Menschen, die mich negativ beeinflussen könnten, war eine davon. Somit war die Lösung, allein sein auszuhalten. Der Weg war hart, aber immerhin habe ich jetzt keine Angst mehr davor, mich mit mir selbst und meinem Leben auseinanderzusetzen, da es nichts zu bereuen gibt. Endlich kann ich allein sein.