Wir beide bis ans Ende.

Es ist zwei Uhr. Sie sitzt auf der Couch und klimpert apathisch mit einem Löffel in ihrem Kräutertee. Mit halb geschlossenen Augen schielt sie zur Uhr und beobachtet wie sich der lange Zeiger Sekunde um Sekunde weiter fortbewegt. Mit einem langen Stöhnen holt sie die Zigaretten und steht in eine Decke geschlungen auf dem Balkon. Der grauweiße Rauch steigt spiralförmig in die Dunkelheit auf, ehe er in der kalten Nachtluft verschwindet. Noch immer ist nichts von ihm zu sehen. Zwei, drei, vier Züge später, klickt der Schlüssel in der Tür. Er ist allein. Erschrocken sieht er sie an: „Warum zur Hölle schläfst du noch nicht?“ Sie zieht die Augenbrauen hoch und antwortet mit einer Gegenfrage: „Und wo zur Hölle warst du?“ 

Es ist die alte Leier. Mehrmals in der Woche führen sie dieses Gespräch, wie üblich lässt er sie mit nichtssagenden dahingemurmelten Antworten stehen. Geschäfte machen, Sachen erledigen, Freunde besuchen. Es sind immer die gleichen Phrasen, die er ihr hinschmeißt, in der Hoffnung, dass sie sie ohne weiteres schluckt. Mit dem letzten Zug versucht sie ihre Sorgen mit dem Rauch auszupusten. Es ist pures Gift, also beides, das Nikotin und der Mann - sie weiß das. 

Tröstend nimmt er sie in den Arm und zieht ein Geldbündel aus der Hosentasche. „Gut, die Miete wird fällig.“ Er nickt. Ein grüner Schein überschlägt den blauen, ein roter folgt auf einen lilafarbenen. Von den Farben geblendet, stellt sie keine Fragen mehr. Es macht sie nicht glücklich, aber es erleichtert das Leben. Er fährt mit seinen Fingern durch ihre dunklen Locken und wiegt sie langsam in den Schlaf. Das Handy vibriert in der Hosentasche und er wird immer nervöser. „Yo? Was ist?“ Sie kennt diese Stimme, diesen Tonfall, diesen Gesichtsausdruck. Er wird sich jetzt eine Jacke überwerfen und zu dem kleinen braunen Wohnzimmerschrank gehen. Es wird ein Mal knarzen, dann ein zweites Mal, und letztlich wird ein metallenes Klicken zu hören sein. Er wird die Tür offenstehen lassen, sich eine Zigarette in den Mund stecken und dann die Wohnung verlassen. Aus dem Augenwinkel sieht sie, wie er im Türrahmen steht und sie beobachtet. Er studiert jede ihrer Bewegungen, jeden Blick, das hat er schon immer getan. „Hier, die ist für dich. Falls Leute hier auftauchen.“ Vorsichtig drückt er ihr diesen kleinen schweren Gegenstand in die Hand. Ihre Finger werden zittrig, alles in ihr sträubt sich, wenn sie das Ding auch nur in der Hand hält. Der Lauf der Pistole starrt in ihre leeren grauen Augen und weckt ein ungutes Gefühl, eine Ahnung, dass dieser Lauf bereits schlimme Dinge gesehen hat. „Kannst du nicht einfach dafür sorgen, dass hier keiner auftaucht?“ „Nein, ich sorge dafür, dass niemand herkommt. Aber ich kann es nicht versprechen und du sollst dich schützen können, wenn ich nicht da bin.“ Wieder vibriert es in seiner Hosentasche. Er gibt ihr noch einen flüchtigen Kuss, sagt sie solle gut schlafen. Mit einem „bin gleich wieder da“, verlässt er die Wohnung und sperrt die Tür ab. 

 

Es ist halb fünf. Mit Gerumpel fällt er in die Tür und wirft seine Schuhe gegen die Wand. Seine Faust schlägt gegen den Lichtschalter und er schreit irgendwas von wegen sie hätte Verpflichtungen und müsse ausgeschlafen zur Arbeit gehen. Sie erwidert nichts, denkt nichts, sie starrt. Seine hellbraune Jacke ist blutverschmiert, die Hose abgewetzt und seine Handknöchel sind blutig und aufgerissen. Mit seinem unbeholfenen Körper tritt ein beißender Alkoholschwall in das Schlafzimmer. Ruckartig richtet sie sich auf, reibt sich die Augen und dreht hinter ihrem Rücken das von Tränen durchtränkte Kissen um. Mit einem gespielten Gähnen fragt sie was passiert ist. Langsam beruhigt er sich, der Ton wird sanfter und er wirft sich zu ihr aufs Bett. Sein warmer Körper schmiegt sich an ihren heran, seine rauen Hände halten ihr Gesicht, als wäre es das Wertvollste auf dieser Welt. Der Blümchenbettbezug ist verschmiert mit dem Blut eines Fremden. Alles unbedeutend, denn er schenkt ihr wieder diesen Blick. Seine Augen haben das tiefe Blau des Ozeans, wenn man ihn aus dem Flugzeug betrachtet. Diesem Blick, diesen Augen hat sie ihre ewige Treue und Loyalität geschworen. Sie wollte so gerne seine Frau sein, die Eine, die er liebt, der er vertraut, sein Fels. Sie war so dumm.

 

„Wir müssen aus der Stadt raus.“ Gleich morgen wolle er gehen. Während sie auf der Arbeit ist, würde er alle Sachen zusammenpacken. Sie kann nicht weg, sie hat hier ihre Familie, ihre Freunde, die Arbeit, ihre Zukunft. Sie gibt sich größte Mühe, nicht wie ein Kind zu jammern. „Ich bin deine Familie und deine Zukunft. Wir haben gesagt durch dick und dünn. Wir gegen den Rest der Welt. Ich habe das für dich getan. Nur für dich,“ sagt er und signalisiert, dass das letzte Wort gesprochen wurde. Sie nickt stumm und legt ihren Kopf auf seine Brust. „Ja, wir zusammen bis ans Ende“, murmelt sie vor sich hin. Sie sprechen es gemeinsam wieder und wieder, laut und deutlich, ein Mantra, eine Gehirnwäsche. Das flaue Gefühl im Magen will nicht verschwinden, sie wischt sich die zerzauste Haarsträhne aus dem Gesicht und richtet den Blick stur an die Decke. Während er ihre Hand drückt und mit ihrem Ring spielt, erkennt sie die wahre Natur dieses Gefühls. Angst. Es ist pure Angst. Er dreht an dem Ring immer im Kreis, ein Kreis, der nie aufhört, auf ewig. Für immer dieser Ring mit seinem Namen, für immer dieser Mann, dieses Leben. Sie bekommt Panik.

 

Erst ganz leise flüsternd, wird sie dann lauter: „Ich will nicht gehen und werde es auch nicht. Sag nicht, du hättest das für mich oder uns getan.“ Er zieht die Augenbrauen hoch und starrt einige Sekunden ins Leere. Wie eine willenlose Puppe schubst er sie von sich und schreit, ob das ihr Ernst sei. Die Stimme überschlägt sich, wird laut, wird heiser und dann wieder ruhig, doch im Unterton bleibt die Aggression erhalten. Ein falsches Wort, ein Blick, eine Träne und die Situation eskaliert völlig. Sie kennt diese Momente und atmet tief durch. Ruhig, ganz ruhig, versucht sie ihm gutzuzureden, um die nächste Etappe des Wutanfalls nicht zu riskieren: den totalen Kontrollverlust.

Heute ist es anders. Er lässt sich nicht von seiner Idee abbringen, lässt sich nicht einlullen und bleibt stur an der Fantasie der gemeinsamen Flucht haften. Er spricht von Neuanfang, er würde sich eine Arbeit suchen, sie könne ihr Studium fortsetzen. Wäre das nicht toll? Irgendwo, wo immer Sommer ist ein neues Leben anzufangen? Gemeinsam Eis essen zu gehen mit den Kindern? Sich jeden Tag am Strand zu lieben und in die Sterne zu schauen? Es führt zu nichts. Beide wissen, dass das niemals ihre Realität sein würde.

 

Sie bleibt sitzen und bietet mit standhaftem Blick Parole. „Wir beide bis ans Ende?“, flüstert sie beinahe lautlos. Zwei Tränen rollen ihm über die Wange, bis sie von ihren Fingern aufgefangen werden. Sie haben sich einander verschrieben, Loyalität bis zum Ende geschworen. Ihre Umarmung ist fest, so fest, dass er kaum Luft bekommt und sie wiegen sich eine Weile im Bett hin und her. Er küsst sie ein letztes Mal, nicht leidenschaftlich, ganz sanft und mit ganzem Herzen. „Ich liebe dich wirklich über alles, mehr als mein eigenes Leben. Wir beide bis ans Ende aller Tage.“ Sie drückt ihren Kopf gegen seinen Hals, atmet seinen Geruch noch ein letztes Mal ein. Er hält die Waffe an ihre Stirn. Es klickt. Er drückt ab. Mit ganzer Kraft presst er ihren leblosen Körper an sich und dreht den Pistolenlauf um. Es klickt noch ein letztes Mal. Er drückt ab. Warum war sie nur so dumm?