Geschlossene Gesellschaft - Ein Einblick in Station B.

Gleich vorab möchte ich klarstellen, dass nicht alle Psychiatrieaufenthalte so sind. Insbesondere die offenen Stationen erinnern eher an einen Ausflug in ein Schullandheim, in dem man Perlenarmbänder bastelt, Basketball spielt und sich zwischendurch über seine Probleme unterhält - (es hilft!) Station B ist die Endstation für akute Notfälle bei Suchterkrankungen, Bipolaren Störungen, Schizophrenien und Psychosen. Ich war im Frühjahr 2021 eine Woche dort, aus anderen Gründen, aber das spielt hier keine Rolle.

Es ist eine Abstellkammer für schwer kranke Leute, in der man sich einen Spaziergang am Tag erst verdienen muss. Es gibt weder Beschäftigungstherapie noch psychologische Gespräche. Unsere Therapie waren Medikamente, schlafen, 14 Partien Schach, Kartenspiele, zehn minütige Telefonate, eine Stunde Handy am Tag unter Beobachtung. Ich kann dem Personal keine Vorwürfe machen. Sie sind unterbesetzt und dauerhaft im Stress. Ich habe eine Pflegerin auf dem Balkon weinen sehen, während sie sich mit Patienten unterhalten hat. Fast alle, die auf der B gelandet sind, wurden in ihrem Leben schwer traumatisiert. Das sollte man beim Lesen im Hinterkopf behalten. In diesem Text wurde nichts erfunden, die Realität erzählt die krassesten Geschichten.  

Herzlich Willkommen auf der B. 

 

 

Das grell weiße Neonlicht

zeigt das, was sonst der Schatten birgt.

Eine Frau, die ein unsichtbares Kleinkind wiegt,

einen Mann, der am liebsten mit sich selbst spricht,

einen, der an sein Bett gefesselt schreit,

einen, der wieder stundenlang weint,

eine Alte fragt alle zehn Minuten nach der Zeit,

erfährts und läuft weiterhin im Kreis.

Es sind keine Aussätzigen, keine bösen Gestalten.

Es sind Menschen, die mal fest im Leben standen.

Menschen so wie du und ich,

bis die Krankheit ihre Seele bricht.

Jonas' wichtigste Lektion.

Mit seinen 18 Jahren ist Jonas Christian unser Stationsbaby. Nicht nur aufgrund seines Alters, sondern auch, weil es sein erster Psychiatrieaufenthalt ist. Welpenschutz. Erst kommt er einem vernünftig vor, doch nach ein paar Sätzen merkt man, wie zerstreut dieser Mensch ist. Manchmal haut er so Sachen raus. Wir anderen sagen über ihn, dass er so oft gegen den Zug gelaufen ist, dass er verpasst hat, einzusteigen. Zwei Mal am Tag läuft er mit seinem kleinen grünen Koffer an uns vorbei und verabschiedet sich. Auf meine Nachfrage mit wem er das denn besprochen hätte, holt er tief Luft und hebt seinen Zeigefinger. Die dramatische Pause wirkt, als wollte er gleich etwas Wichtiges sagen, tut es aber im Endeffekt dann doch nicht. Später packt er seinen Koffer wieder aus. Abends verabschiedet er sich erneut. Diesmal hätte er einen Plan, wie er doch noch hier rauskäme. „Machts gut! Alles Gute für euch! Ciao!“ – „Jap, bis später!“ Sarkastisch schnaubt er auf, fast schon empört, dass wir ihm nicht glauben, dass er wirklich abreisen wird. Eine Stunde später packt er seinen kleinen Koffer aus. 

 

Ein gefährlicher Typ. Nicht unbedingt für andere, eher für sich selbst, denn er gehört zu den Menschen mit psychischer Erkrankung, die nicht sehen, dass sie krank sind. Das wird früher oder später zu einem ernsthaften Problem. Für alle Beteiligten. 

So wie an diesem einen Tag, als er seinen Masterplan geschmiedet hat…ich denke, es war der zweite. Wir saßen zu viert auf dem vergitterten Balkon und warteten gespannt auf seine neuste Strategie. Wir haben nicht sehr viel Beschäftigung hier auf der B. Stattdessen fragte er in die Runde: „Ihr gewieften Füchse! Ihr habt viel mehr Erfahrung als ich. Also sagt mir, wie komme ich hier raus?“ Ich habe ihm erklärt, dass ihn nichts hier rausbringt, solange die Ärzte der Meinung sind, dass er noch nicht gehen darf. 

„Und wenn ich trotzdem gehe?“ - schallendes Gelächter - „Kannst du ja mal versuchen. Kollege, diese Türen sind nicht umsonst zugesperrt.“

Ich erklärte: „Hör zu, du bist hier in einem beschlossenen Spiel. Du bist gefangen in einem System, in dem du, wenn du als unzurechnungsfähig eingestuft wirst, nichts zu sagen hat. Deine einzige Möglichkeit, um schnellstmöglich entlassen zu werden, ist, dich zu fügen, die Medikamente zu schlucken, die sie dir hier geben und irgendwie klarzukommen. Finde einen Umgang, sei brav, erklär dem Arzt, dass du konkrete Pläne und ambulante Nachsorge hast, dann geht alles viel schneller. Aber ein bis zwei Wochen musst du einplanen.“ 
Jonas: „Und wenn ich mich einfach weigere? Wenn ich sage, dass ich gehen will? Wie wollen die mich festhalten?“ – Lektion: „Ganz einfach. Sobald du hier einen Aufstand anzettelst, werfen sie dich zu Boden, fixieren dich an dein Bett, du bekommst sogar einen schönen Katheter gelegt und falls du hungern willst, auch eine Sonde. Dann bekommst du starke Beruhigungsmittel und schläfst erst mal die nächsten 24 Stunden. Wir nennen das die Betonspritze. In der Zeit holen die sich einen richterlichen Beschluss. Der Richter oder die Richterin interessiert sich einen Scheiß für deine Lebensgeschichte, sondern hört einzig und allein auf den Rat der Ärzte. Die Unterschrift wird innerhalb weniger Stunden an das Krankenhaus gefaxt und dann hast du gar nichts mehr mitzureden. „Hm. Ich glaube nicht, aber ich überlege es mir.“ – Okay mach das. Erzähl mir wies gelaufen ist. 

Unser Jonas Christian packt mal wieder seinen Koffer und baut sich mit breitem Kreuz hinter einem Pfleger auf. Der besagte Pfleger ist mit einem anderen Patienten beschäftigt, also erzwingt Jonas die Aufmerksamkeit, die ihm seiner Meinung nach zusteht. In einer unglaublich dummen Trotzreaktion hebt er zwei Tische an und wirft sie um. Drei Pflegekräfte stürzen sich auf unser Stationsbaby und der Arzt drückt sein Knie auf seinen Rücken, bis sie das Fixiergeschirr geholt haben. Den restlichen Verlauf habe ich bereits vorausgesagt. Er wurde mit fünf Punkt Fixierung an sein Bett gebunden, hat eine schöne Spritze bekommen und ist friedlich ins Koma gefallen. Dann wurde sein Bett in einen speziellen Überwachungsraum geschoben und Feierabend für Jonas Christian. 48 Stunden später habe ich ihn kurz im Speisesaal gesehen.

 

Frau Schmidt will nach Hause.

 

„Frau Schmidt, bitte austrinken! Hallo, AUSTRINKEN, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“

In einer gleichgültigen Haltung steht sie vor ihm und zuckt mit den Schultern, tut so, als würde sie die Worte, die aus seinem Mund kommen nicht verstehen. Sie ist klein und träge, ungefähr Mitte 30. Manchmal hat sie Wutanfälle und fängt grundlos Streit mit anderen Patienten an. Damit hat sie sich beim Personal sehr unbeliebt gemacht. 

„Bitte nimm das Medikament. Jetzt. Solange du die Medikamente nicht nimmst, kannst du nicht nach Hause und musst noch länger hierbleiben.“ Der Pfleger sieht sie verzweifelt an und hält ihr einen kleinen Becher vor die Nase. In seiner Brusttasche klingelt das Telefon ununterbrochen. 
Mit Tränen in den Augen reißt sie den Becher an sich und trinkt den letzten Rest aus. Vor einer Viertelstunde hatte sie um ein Arztgespräch gebeten, geweint und meinte, sie wolle dringend nach Hause. Irgendwas sei mit ihrer Tochter. Der Stationsarzt ist nicht aufgetaucht, er hat lediglich verordnet ihr ein Bedarfsmedikament zu verabreichen. Sie ist schon mehrere Monate hier, den Grund kenne ich nicht, aber ich weiß, dass es keinen Unterschied gemacht hätte, ob sie den Bedarf nimmt oder nicht. Ich liege mit ihr und noch zwei weiteren Frauen im Zimmer. Sie weint jeden Tag, weil sie es hier ganz schlimm findet und die Medikamente nicht nehmen möchte. Sie sagt, sie machten sie müde und sie wisse nicht was drin ist. 

Jetzt sind zehn Minuten vergangen seitdem der Pfleger sie zur Bettruhe verdonnert hat. Ich sitze noch immer aufrecht im Bett, schreibe und kritzle auf meinem Block herum. Zwischendurch schaue ich ihr zu, wie sie durchs Zimmer torkelt, ehe sie ins Bett fällt. Wie eine Raupe in ihrem Kokon hat sich Frau Schmidt in eine Decke eingewickelt und schnarcht vor sich hin. Sie wurde ausgeschaltet. Wortwörtlich.

Mittagessen.

Es ist zum verrückt werden. Wer es noch nicht ist, der wird es hier mit Garantie. Nachdem wir den gesamten Vormittag nichts zu tun hatten, fühle ich mich wahnsinnig erschöpft vom bloßen existieren. Man hat einfach zu viel Zeit, um zu grübeln und sich Probleme zu schaffen, die es vorher nicht gab. Müde und ein wenig gereizt schleppe ich meine Knochen Richtung Speisesaal. 

 

Die Schlange für die Essensausgabe streckt sich bis in den Flur und ich warte geduldig, bis ich an der Reihe bin. Ich muss nicht einmal den Hals ausstrecken, um zu sehen, wer sich bereits im Speisesaal eingefunden hat - ich höre es. Dreistimmiges Gebrüll durchdringt die dicke Glasscheibe, die Wände, Räume, die gesamte Station. Mich würde es nicht wundern, wenn selbst die Leute, die ein Stockwerk höher liegen das Gespräch mit verfolgen könnten. Sowie ich den Saal betrete, erwischen die zankenden Altherrenstimmen meinen Gehörgang, als würden sie mir mit einem Gartenschlauch eiskaltes Wasser ins Ohr spritzen. Ich drehe mich um und sehe alle drei auf Station B berühmt berüchtigten Männer an einzelnen Tischen sitzen. 

Herbert sitzt am letzten Tisch und stochert mit der Gabel im nicht identifizierbaren Mittagsgericht herum. Auf dem Plan steht irgendwas mit Fisch. Seine Haut ist vom Alkoholmissbrauch dunkellila gefärbt und aufgedunsen. Die Inkontinenzeinlage ragt aus den Lücken des Kittels hervor. Das grau blonde schüttere Haar, schmeichelt den übrig gebliebenen dunkelgelben Zähnen und Fingernägeln. Von Kopf bis Fuß ist dieser Mann eine einzige vor Krankheit strotzende Farbpalette. Seine lila-rot-gräuliche Hautfarbe am Rest des Körpers und dann die dicken dunkelblauen Beine, die an seinen Rollstuhl gefesselt sind. Ich habe das Bedürfnis mit dem Rauchen aufzuhören. 

Schräg gegenüber sitzt ein glatzköpfiger Mann. Eigentlich ist er erst 53 Jahre alt, aber sein Lebensstil hat ihn um 20 Jahre altern lassen. Aus Sorge, dass man ihn beklauen könnte, rennt er den ganzen Tag mit einer Edeka Tüte herum. Pfandflaschen (die er teilweise geklaut hat), Schokolade, Briefmarken im Wert von drei Euro (erst hatte er Briefmarken für sechs Euro dabei, nur hat sie tatsächlich jemand gestohlen), Dokumente und Briefe, eine leere Dose Tabak und eine volle Dose Tabak. Er ist ein aufgeblasener Mann mit bescheidenen Mitteln. 

Der dritte ist ein Neuzugang. Er sieht ebenfalls nach mindestens 70 Jahren aus und kleidet sich erstaunlich schick für dieses Etablissement. Ein blaukariertes Hemd und eine braune Cordhose, die mit einem breiten Gürtel über dem Bauchnabel befestigt ist. Er ist einer dieser Menschen, die sich drei lange Strähnen über die Glatze kämmen.  
Und diese drei Spezialisten, einer klüger als der andere, schreien sich jetzt quer durch den Raum an und beschweren sich, dass es zu laut ist. Meine Gruppe von fünf Leuten starrt geistesabwesend auf die Teller. Wer zuerst aufisst, hat gewonnen. Ich schiebe mir drei Gabeln Nudeln mit Fisch (?) gleichzeitig in den Mund. 

Herbert beginnt: „Halts Maul. Es ist zu laut!“

Cordhose: „Du brauchst grad reden. Du bist doch der Schreihals hier.“ 

Herbert: „Nein, ich lass mir doch von so einem Großmaul nicht den Mund verbieten.“ 

Cordhose: „Würdest du mal auf mich hören du Depp. Dann hätte man hier seine Ruhe!“ 

Und so weiter: „Was? Du nennst mich Depp? Grade DU?! Wer von uns beiden ist hier der Depp, bittschön.“ 

Edeka Mann: „Haltet beide euer Maul, ihr seid beide Deppen.“ 

Cordhose: „Was mischt du dich jetzt da ein. Willst du auch noch was zu sagen haben?“

Es hört nicht auf. Vollkommen entgeistert sehen wir uns an, während sich alle drei gegenseitig „Psssschhht!“, durch den Speisesaal zu rufen. Dann wagt es einer und schreit in die Runde: „Wie wärs wenn ihr alle Drei mal die Fresse haltet? Dann hätte man hier seine Ruhe! Ihr spinnt doch alle!“  

Der einsame Kämpfer wird zur Zielscheibe aller drei Herren. Verzweifelt lässt er den Kopf hängen, schiebt seinen Erdbeerquark von sich weg und verlässt wortlos den Speisesaal. Die Tatsache, dass er seinen Erdbeerquark einfach so an unsere Gruppe abgegeben hat, zeigt, dass er diese Situation wirklich nicht mehr aushält. Auch ich schiebe meinen Stuhl zurück und stecke mir noch den Erdbeerquark in die Jackentasche. Scheiß drauf, ich brauch ne Kippe. 

Lass ihn reden, der spinnt eh.

„104, 105, 106, ich bin nicht krank. 106, 107, ich werde nach Hause gehen. Sofort. Sofort.“

 

Geistesabwesend starrt er uns der Reihe nach in die Augen und murmelt vor sich hin. Vor uns steht ein schmächtiger Mann mit langem Bart. Er sieht ausgehungert aus und hat viele Narben an seinen knochigen Armen. Eine sehr große tiefe Narbe führt an seinem Hals entlang, es sieht nach einem Messerangriff aus. Eine Pflegerin erzählte mir, er sei erst seit einem Jahr in Deutschland. 

Dann räuspert er sich und hebt seine Stimme. Er richtet den Finger auf uns, gespannt sehen wir ihn an und warten. „110, 111, 112, 113, 114.“ Es hat sich nicht gelohnt, ihm zuzuhören. Wir setzen unser Kartenspiel fort. Bis auf den Speisesaal und zwei Tische im Gang gibt es keine Aufenthaltsplätze. Da ist der Raucherbalkon mit dem kleinen klapperigen Tisch die beste Wahl. Die Klinik grenzt an einen Wald an und man hat von hier aus einen wirklich schönen Ausblick ins Grüne. Die Schlitze zwischen den Gitterstäben sind nicht sehr breit, aber wenn man ganz nah herangeht und durchschaut, kann man sogar die Vögel am Teich beobachten. Abends sehe ich mir gerne die Enten an und schaue den Patienten der offenen Stationen beim Yoga zu. 

Ich zünde mir meine x-te Zigarette für heute an und mustere unseren neuen Freund. Der Boden ist versifft von Asche, Spucke und Kaffeeflecken und trotzdem läuft er nur in Socken herum. Es sind Krankenhaussocken, die bekommt jeder, der barfuß eingewiesen wurde. Ich sage ihm, dass ich den Boden ekelhaft finde und frage, ob er keine Schuhe dabeihat. Er zögert, zieht an seiner abgebrannten Zigarette und antwortet dann: „114, ich spreche gut Deutsch und ich bin nicht krank! 115, 116 siehst du?“ Die Patienten auf der Station über uns trommeln wild auf dem Boden ihres Balkons herum. Manchmal machen sie Vogelgeräusche und rufen: „Die Engel! Die Engel kommen, seht ihr sie nicht?“ Sie wollen Psychosen triggern, um sich danach kaputt zu lachen. Der Neue zeigt nach oben: „Hörst du? Da sind sie alle.“ Mit der freien Hand macht er eine halsabschneidende Geste. Der Alte gegenüber sieht mich fragend an, als hätte ich eine Ahnung, was er meinen könnte. Gleichgültig winke ich ab. Eine Geste, die hier Standard ist. Zwischen Patienten, dem Pflegepersonal, teilweise sogar Ärzten. Es ist eine Handbewegung, die signalisieren soll: Keine Ahnung, lass ihn reden, der spinnt eh. Und das tun wir alle. Trotzdem sagt jeder über jeden: „du hast doch einen Sprung in der Schüssel!“, oder „bist nicht ganz normal in der Birne.“ Aber keiner sagt sowas über sich selbst. Der Neuzugang kommt an unseren Tisch und wirft die Karten durcheinander. Resigniert beenden wir das Spiel. Nervös schiele ich immer wieder zur Uhr. Es sind noch 22 Stunden und 15 Minuten bis zu meiner Entlassung. 


Grüße gehen raus an alle, die in dem Bereich arbeiten und ernsthaft versuchen zu helfen. Und an all diejenigen, die in diesem kaputten System versuchen klarzukommen. Meinen Respekt Leute.