Bitter im Abgang.

Art by: Lorenzo Minutella
Art by: Lorenzo Minutella

Die Uhr tickt. Ihr gleichmäßiger Rhythmus provoziert mich. Es ist ein Ticken, das in meinem Kopf noch drei Mal nachhallt, bevor das nächste ertönt. Halb 12, ich habs verstanden!

Ich bin allein in der Wohnung und gehe energisch auf und ab. In Gedanken versuche ich mir gut zu zureden, zu beten und mich auf meine Atmung zu konzentrieren, doch nichts bringt mich von meiner Anspannung runter. Immer wieder bleibt mein Blick an der Fotowand haften und ich sehe all die Menschen, mit denen ich mein bisheriges Leben geteilt habe. All die lächelnden Gesichter, die freundschaftlichen Umarmungen, liebevollen Küsse, für die Ewigkeit festgehalten.

Keiner von ihnen ist mehr da, ich bin allein mit mir. Ich fühle mich geschlagen und gescheitert und halte es nicht mehr mit mir aus. Es kommt mir vor, als könnte ich von oben beobachten wie ich zunehmend meinen Verstand verliere.

 

Ich gehe in die Küche, steige auf einen der klapperigen Stühle und hole aus der hintersten Ecke auf dem Schrank eine verstaubte Flasche Billig Vodka hervor. Ich traue mich nicht einmal daran zu riechen, das Zeug muss mittlerweile wie Spiritus schmecken. Großzügig schenke ich den zimmerwarmen Hochprozentigen in ein Glas ein, nehme einen großen Schluck und gehe ins Schlafzimmer. Das ist das letzte Mal, sage ich zu mir. So wie beim letzten Mal auch schon, doch jetzt ist es etwas anderes. Dieses Mal meine ich es wirklich ernst.

Mein Glas fest im Griff, kniee ich mich auf den Boden und hole eine Werkzeugkiste unter dem Bett hervor. Nachdem ich sie von Staubflusen befreit habe, öffne ich die Kiste und räume das Werkzeug heraus. Ich finde Hammer und Nägel und öffne dann mein Geheimversteck. Unter dem doppelten Boden versteckt sich meine wohlbehütete Glock 22. Mein Opa hat sie mir überlassen und meinte ich solle sie nur verwenden, wenn ich keinen Ausweg mehr finde, wenn ich mich ernsthaft bedroht fühle. Es sind noch 8 Patronen drin.

 

Fein säuberlich verschließe ich die Werkzeugkiste und schiebe sie zurück auf ihren Platz. Ich kann Unordnung nicht leiden. Mit Pistole und Hammer in der linken und dem Vodka in der rechten Hand gehe ich ins Wohnzimmer und stelle mich wieder vor die Fotowand.

Ihr Glück, ihre Liebe, ihre Freundschaft, all das stinkt mir zum Himmel. Allein der Anblick ekelt mich an. Wieder nehme ich einen großen Schluck aus dem Glas und verziehe daraufhin das Gesicht. Der Schnaps brennt im Hals und schmeckt unglaublich bitter im Abgang. Es fühlt sich an, als könnte ich eine Stichflamme erzeugen, wenn ich jetzt ein Feuerzeug anpusten würde.

Mit peinlicher Genauigkeit betrachte ich die Gesichtsausdrücke auf den Fotos. Zwar lässt mich das gedimmte Licht schlecht sehen, doch ich sehe mehr als genug. Mir reichts.

Eine Kombination aus Wut, Ekel und Enttäuschung droht mich zu ersticken. Aus diesem Gefühl heraus, sortiere ich meine Fotos und pinne die unbrauchbaren wieder an ihren Platz. Wie gesagt, ich kann Unordnung nicht leiden. Sieben Bilder habe ich ausgewählt und nagle sie mit einem Hammer an die Wand. Ordentlich und in der richtigen Reihenfolge, hängen meine Fotos jetzt, alle auf gleicher Höhe, an der Wand, an der eben noch ein Ikea Bild von einer Orchidee hing.

 

Ich mache ein paar Schritte zurück und gehe die ganze Reihe durch, eins nach dem anderen. Auf dem ersten sieht man ein lächelndes Kind, das vor einer Palme steht und stolz ein Eis in die Kamera hält. Es wurde im letzten Familienurlaub aufgenommen, bevor ihr Vater die Mutter betrogen hat, und seine Familie für die Affäre verlassen hat. Die Scheidung hat ihre Mutter damals in Armut und Depression gestürzt.

 

Das Zweite zeigt eine Teenagerin, in einem schwarz-weiß karierten Rock, mit großen pinkfarbenen Ohrringen. Sie grinst in die Kamera, weil sie kurz vor ihrem 13. Geburtstag steht. Der Tag, an dem sie von ihrem betrunkenen Onkel missbraucht wurde. Eine einzige große Lüge. Das wurde ihr zumindest unterstellt.

 

Auf dem dritten Bild sieht man ein Mädchen, mit Kupferfarbenem Haar, das eine Freundin ganz eng umschlungen im Arm hält. Im Hintergrund erkennt man das Banner einer Punk-Rock Band. Die beiden sehen unzertrennlich aus, doch wer die Geschichte vor spult weiß, dass die Freundin ihr ihre erste Liebe ausspannen wird.

 

Das Vierte ist das Beste. Es ist ein Gruppenfoto, das offensichtlich auf einer Party entstanden ist. Sie alle stehen kurz vor dem Abitur und zelebrieren den gleichen Lebensstil. Alle fünf Jugendliche halten ihr Getränk in die Kamera. Einige zeigen zusätzlich den Mittelfinger, eine von ihnen hält sich einen Joint vors Gesicht. Damals hat man jedes Wochenende zusammen gefeiert, Erfahrungen gesammelt, Drogen ausprobiert. Als das Mädchen mit dem Joint das erste Mal in eine Entzugsklinik eingewiesen wurde, kam sie keiner besuchen.

 

Das Nächste zeigt ein glückliches Paar, am Tag ihrer Hochzeit. Die Braut sieht ihrem Mann verliebt in die Augen, während er sie hochhebt und strahlend anlacht. Achja, der schönste Tag ihres Lebens. Bis sie ihn zu Hause mit dem Nachbarn beim Sex erwischt hat.

 

Das letzte Bild schmerzt am meisten. Allein das Hinsehen verursacht mir einen Stich ins Herz. Eine Frau mit Babybauch, die lächelnd auf einer Brücke fürs Foto posiert. Das Baby gibt es nicht mehr, es war eine Fehlgeburt.

 

Mit einer Geste wische ich alle Gefühle beiseite und atme kurz durch. Am Glas nippend stelle ich mich vor das erste Bild. Ich sehe ihr direkt in ihre leuchtenden Kinderaugen und ziele mit der Waffe auf die Eiswaffel. Mit zittrigen Händen drücke ich ab. Die Patrone zerfetzt das Foto und knallt mit riesigem Krach in die Wand. Das ohrenbetäubende Geräusch hat mich aufgeweckt, ich fühle mich wieder in der Realität angekommen. In dem Moment, in dem die Kugel in die Wand eingeschlagen ist, hat das entfremdete Gefühl nachgelassen und mein Körper und Geist sind wieder zu einer Einheit geworden. Meine Motivation steigt, ich will einen endgültigen Abschluss. Es fühlt sich richtig an. Also schieße ich, ohne nachzudenken dem nächsten Mädchen in den Kopf. Ohne ein Wort des Abschieds, bekommt jedes Gesicht der Reihe nach, eine Kugel ab.

 

Gehetzt durch die Aufregung, spüre ich wie sich meine Brust hebt und senkt. Ich merke, dass ich kurz davor bin in Tränen auszubrechen und lege die Pistole kurz weg. Unter lautem Aufschluchzen fällt mein Körper kraftlos vornüber. Meine Kniee zittern erbärmlich, während ich mich selbst ganz fest im Arm halte. Nach vorn gebeugt schreie ich aus voller Kehle in den leeren Raum und ziehe mir dabei so fest an den Haaren, dass ich sie büschelweise in den Händen halte. Es fällt mir nicht einmal auf. In diesem Moment spüre ich keinen körperlichen Schmerz. Ich schreie, rufe so laut um Hilfe, in der Hoffnung, dass es irgendjemand bemerkt, sich zumindest interessiert. Doch ich bleibe allein in meiner Verzweiflung.

 

Aus dem Augenwinkel sehe ich mich selbst im Spiegel. In dem Augenblick erstarre ich in dieser Haltung und wage es nicht auch nur einen weiteren Ton von mir zu geben. Entsetzt von diesem Anblick bleibe ich vor mir stehen. Verdammt nochmal, was ist mit dir los? Ich schreie mein Spiegelbild an, dass ich mich entweder zusammenreißen oder sterben gehen soll.

Trotz allem kann ich die Tränen nicht zurückhalten, und so laufen sie mir über meine heißen, geröteten Wangen, während ich die Waffe ein letztes Mal in die Hand nehme. Auf Ex trinke ich den Rest aus meinem Glas und schaue auf die Uhr. Sie zeigt Punkt 23:59 Uhr an. Ich halte das für ein Zeichen.

In meinem Spiegelbild sehe ich mir selbst tief in die Augen, während ich den Lauf der Pistole an meine Schläfe setze. Mit einem Mal habe ich mich entspannt. Mein Puls ist ruhig und mein Blick strahlt Entschlossenheit aus. Nicht einmal das Klicken beim Entsichern der Glock, lässt mich mit der Wimper zucken. Es fehlt nur noch eine Version von mir, presse ich hervor. Die letzte Kugel, der letzte Schuss, für das letzte Ich. Mit geschlossenen Augen zähle ich langsam und deutlich von 5 runter. Bei 2 schlage ich die Augen mit einem Mal wieder auf und fange an lauthals zu lachen. Im allerletzten Moment ziehe ich die Pistole von meinem Kopf weg und schieße geradeaus in den Spiegel. Tausende Scherben springen in alle Richtungen ab und ich werfe die Waffe in die Ecke. Im Hintergrund hört man die Uhr 0 Uhr schlagen und kriege mich vor Lachen nicht mehr ein.

 

Auf dem Weg ins Badezimmer, pfeife ich die Melodie von „Always look on the bright side of life“. Ein Lied, das mir vor allem als Kind sehr gut gefallen hat. Aus dem kleinen Schrank krame ich einen elektrischen Rasierapparat heraus und beginne mir willkürlich die Haare abzurasieren. Strähne für Strähne, fällt mein langes kupferfarbenes Haar neben mir auf den Boden und ins Waschbecken. Immer wieder fahre ich mir mit meinen Händen über den mittlerweile kahlgeschorenen Kopf. Es ist nicht sonderlich gleichmäßig, aber das muss es auch nicht sein. Ich bin zufrieden mit dem Ergebnis. Meine Kleidung ist übersät mit Haaren, also ziehe ich mich allmählich aus und lasse dabei den Blick nicht von mir. Obwohl es Winter ist, ziehe ich mir ein blaues Sommerkleid mit rotem Blümchenmuster an und suche einen passenden Lippenstift heraus. Mit einem knalligen Rotton fahre ich mir die Lippen nach und gebe dem Spiegel einen Kuss, sodass ein schöner Abdruck haften bleibt.

 

Beschwingt, mit einem Lächeln laufe ich die Treppe hinunter in den Keller und kehre mit einem schweren Benzinkanister in die Wohnung zurück. Sobald die Tür zufällt, laufe ich durch alle Räume und verursache wahllos Benzinpfützen. Großzügig verschütte ich die Flüssigkeit auf alle Möbel, den Boden und die Wände. Der beißende Geruch erfüllt mich mit Genugtuung. Auf meinem ehemaligen Ehebett klopfe ich die letzten Reste aus dem Kanister.

Während ich mir noch eine Zigarette anzünde, suche ich in meinem Chatverlauf die Nummer meiner Mutter und schreibe ihr in einer Nachricht, dass ich sie liebe. Dann schalte ich das Handy aus und lasse es auf dem Tisch liegen. Meine Kippe werfe ich auf die Bettdecke und sehe zu wie sich die Glut leise knisternd ausbreitet.

Nachdem ich zusätzlich ein Streichholz drauf geworfen habe, beginnt der Überzug langsam zu schmelzen. Lächelnd gehe ich die letzte Runde durch meine Wohnung und verteile sorgfältig brennende Streichhölzer. Ich verweile noch kurz im Türrahmen des Wohnzimmers und beobachte wie meine Couch in dunklem, dichtem Qualm aufgeht. Zarte Flammen entstehen, es erinnert an ein gemütliches Lagerfeuer. Es hat etwas Romantisches, denke ich mir und beobachte verträumt mein brennendes Sofa.

Plötzlich sticht eine Flamme heraus und färbt die Zimmerdecke kohlrabenschwarz. Es wird Zeit mir eine Jacke anzuziehen.

 

Auf dem Weg nach draußen, mache ich ein Wettrennen gegen mich selbst und rutsche spielerisch das Treppengeländer runter. In einer Art Hoppser-Lauf, gehe ich immer geradeaus die Allee entlang. Im Hintergrund hört man hysterische Schreie und ein großes Krachen, fast so als wäre ein Dach eingestürzt. Verschiedene Stimmen rufen wild durcheinander. Es wird nicht lange dauern bis auch Sirenen dazu kommen. Meine Mimik bleibt unverändert. Ich fühle mich nicht verantwortlich für ihre Hilfeschreie. Meine wurden schließlich auch nicht gehört.

Mit einem halben Lächeln auf den rot geschminkten Lippen und eiskalten, toten Augen, übertöne ich den Lärm und singe aus voller Kehle:

 

"Life's a piece of shit. 

When you look at it. 

Life's a laugh and death's a joke, it's true. 

You'll see it's all a show. 

Keep 'em laughing as you go. 

Just remember that the last laugh is on you. 

And always look on the bright side of life."

 

Ich würdige die Szene mit keinem Blick. Ohne mich noch einmal umzudrehen, verschwinde ich pfeifend in der Dunkelheit.